Das niedere Bild
 

Anmerkungen zur Bilderkunde


Der iconic oder pictorial turn hat als eine heftige Modeerscheinung in den Geschichts- und Kulturwissenschaften in einer Phase um das Jahr 2000 phasenweise hype-artige Züge angenommen. Nachdem diese Phase wohl endgültig überwunden zu sein scheint, sollte es möglich sein, zu einer Stetigkeit im neugierigen Umgang auch mit analog-materiellen Bildern zurück zu finden. Dies kann, etwas weniger ambitioniert als Bilderkunde, durchaus im Rahmen einer Bildwissenschaft geschehen, die als eigenständige, interdisziplinäre Fachrichtung vehement propagiert wurde, um die es freilich seitdem wieder deutlich ruhiger geworden ist. Konkrete forschende Umsetzungen ihrer theoretischen Ansätze und Methoden sind selten geblieben.

Zu den Voraussetzungen und zum Profil gegenwärtiger Bildwissenschaft gehört unter anderem, dass der tägliche Umgang mit einer digitalen, internetbasierten Bilderwelt so selbstverständlich für alle Generationen geworden ist, dass Blicke auf den vor-digitalen Bilderalltag (der älteren Generationen, vor allem aber in historischen Zeitabschnitten) deutlich weniger selbstverständlich erscheinen, zwar keiner Rechtfertigung bedürfen, aber vielleicht demnächst auch einer Art erneuerter Begriffsbestimmung harren.

Hoffentlich wird dies zukünftig nicht nur im Rahmen von sich ständig ablösenden Turns erfolgen, was unter anderem zur Konsequenz hätte, dass bildgeschichtliche Betrachtungen generell zu modischen Trends degenerieren würden. Stattdessen ist wünschenswert, die „Visualisierung der Wissensgesellschaft“, etwa unter dem Motto „mit Bildern leben“, als stetig-selbstverständliches Untersuchungsfeld historisch-kulturkundlicher Wahrnehmung zu bestimmen – oder: die traditionell so genannte Bild-Kunde tatsächlich als integralen Bestandteil der Alltagskulturforschung zu begreifen, und zwar ohne zeitliche Beschränkungen.

Eine Zeitlang haben sich zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen auf die Bilder und ihre „Macht“ im Sinne des Einflusses nonverbaler Kommunikation auf Kultur und Gesellschaft geworfen. Wie dieser Einfluss gestalterisch und gleichsam bildprofessionell genutzt werden kann, lehrt die Visuelle Kommunikation als Fachgebiet der low culture, welches die vor 100 Jahren übliche Gebrauchsgrafik abgelöst hat. 

Parallel dazu waren und sind auch immer wieder einmal die materiellen Dinge oder Sachen „dran“ im Sinne einer „Macht der Dinge“. Wie ein ergebnisartiger Extrakt aus solchen wissenschaftlich-modischen Trends zu formulieren wäre, wird sicherlich an anderer Stelle diskutiert werden, auch im Anschluss an die bereits bestehende Forderung, Kunst (auch) unter Aspekten einer Sachkulturforschung zu betrachten (bereits 1970 wurde die „Kunstpopularisierung als volkskundliches Dokumentationsproblem“ beschrieben). 

Wenn eine Bildwissenschaft nicht zum Schlagwort verkommen soll, müssen ihr konkrete Einzelfallstudien folgen sowie deren überblicksartige, vergleichende Auswertung. Dann erhalten Begrifflichkeiten wie Bild-Wanderungen, Bild-Diskurse, Bild-Zitate oder Bild-Ordnungen eine nachvollziehbare Füllung. Entsprechende Arbeiten sind wohl am häufigsten in der (mehr oder minder sozialwissenschaftlich beeinflussten) Kunstwissenschaft entstanden, im Falle der popularen und populären Bilderwelt vor allem in der Volkskunde (Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie). Deren Feld ist der „Bilderalltag“, der über relativ klare Abgrenzungen gegenüber den Arbeitsfeldern der Archäologie, Kunstgeschichte und Geschichte sowie weniger klare gegenüber der Kultursoziologie und Psychologie oder den Medienwissenschaften verfügt.

Eine Schnittmenge zwischen volkskundlicher und psychologischer Bildbetrachtung etwa besteht in der Erinnerung in Gestalt von Bildern und bildlichen Vorstellungen, denen nur zum Teil eine irgendwie geartete Materialität innewohnt und die manchmal sogar nicht oder kaum erzähl- und reproduzierbar sind, obgleich ihnen reale Ereignisse zugrunde liegen können. Zu den nicht erzählbaren, abbildungslosen oder tabuisierten Themen können traumatisierende Schreckensbilder des Holocaust gehören, die Betroffene lebenslang mit sich tragen, aber auch individuelle Paradiesbilder, die als Glaubensbilder ebenso zeit des Lebens Bestand haben. Beider Verhältnis zu erlebter oder vermittelter und gelernter Bildlichkeit samt Inhalt bleibt grundsätzlich schwer zu fassen im Sinne rationaler, sprachlich formulierbarer Erkenntnis. Hier liegen Schwierigkeiten, aber auch Chancen im Umgang (auch und gerade) mit religiösem Bildgut, insbesondere wenn es gilt, so etwas wie ein „kollektives Bildgedächtnis“ heraus zu arbeiten.

Neben methodisch strengen Analyseansätzen und Bild-Theorien zum generellen Themenkomplex „Kunst, Wahrnehmung und Wirklichkeit“ (oder in umgekehrter Reihenfolge) gibt es auch weiterhin – mehr oder weniger „lustbetonte“ – kunstgeschichtliche Meditationen über die „Wirklichkeit im Bild“, in denen sich zuweilen Faktendokumentation, Fiktion und subjektive Interpretation im Gefolge eines geistesgeschichtlichen Rundumschlags untrennbar miteinander vermischen. Konkret formulierte Erkenntnisziele und humanistische Gedankenspiele zur europäischen Geisteskultur stehen hier nebeneinander, was natürlich ein Stück weit dem grundsätzlichen Charakter von Kunst geschuldet ist.

In „Erzählungen nach historischen Bildern“ werden historische Bildkunstwerke nicht (nur) als faktische Quellen für die Geschichtswissenschaften gefestigt, sondern deren Interpretation kann auch zu einer lebensbegleitenden Lernhilfe erklärt werden. Im Umgang mit Bildern können sich die Grenzen zwischen verschiedenen Disziplinen dauerhaft verwischen. Neben die klassische Kunstgeschichte sind historisch ausgerichtete Fächer getreten, deren Erkenntniszugriff ineinander verschwimmt. Die klassische Geschichtswissenschaft, die Bilder als Quellen für reale Abläufe in Politik und Gesellschaft aufgefasst hat, scheint überwunden angesichts des anerkannten Wissens um die vielfache „Brechung“ jedes „Sachverhaltes“ in jeder Art von Kunstwerk, nicht nur dem bildlichen, sondern natürlich auch dem literarischen. Schon lange erscheinen keine Anleitungen mehr, wie man „Bilder als Quelle“ nutzen könnte oder sollte, und die Zugriffsmöglichkeiten haben sich stark ausdifferenziert zwischen den Geschichts-, Kunst- und Kulturwissenschaften und deren Didaktiken sowie der Psychologie, Erziehungswissenschaft, Religionspädagogik und vergleichbaren Ansätzen. 

Auch aus der Annäherung der Kunst-Bild-Betrachtung in Richtung Kunsterziehung oder Sozialpädagogik gehen Gemengelagen hervor, die es schwer machen, klare methodische Linien in der Beschäftigung mit Bildern zu ziehen. Aber das ist vielleicht auch nicht immer erforderlich, schon wenn man auf die gelungenen kunstgeschichtlichen Meditationen blickt. Jenseits zu hoher methodischer Stringenz-Ansprüche eröffnen sich viele Felder der lebendigen Aneignung von Bildern – gemeint auch als Angebot von Anschauung und Erkenntnis. Das entspricht letztlich dem „mehrdeutigen“ Charakter jedes Bildes selbst: Die „Bereitschaft des Betrachters“ stellt jeweils eine – nicht die – Wirklichkeit her. Oder, auch wenn das wie eine Binsenweisheit oder Plattitüde klingt: Jedes Bild-Erleben ist individuell und löst in jedem Betrachter andere gedankliche und Gefühls-Prozesse aus, bis hin zu auch vielleicht irritierenden Verknüpfungen. 

Vor diesem Hintergrund machen kunstwissenschaftlich definierte, aber auch kulturkundlich anwendbare Devisen wie „Sehen lernen“, „Bilder lesen“ oder „Bilder zum Sprechen oder Schweigen bringen“ einen Sinn. Sie greifen über künstlerische und kunstinterpretatorische Intentionen hinaus und können eine Ganzheitlichkeit gewinnen, die problemlos und gern, aber auch möglichst reflektiert, Aspekte der Anschaulichkeit und Emotionalität mit enthält – was nicht gleichzusetzen ist mit dem Empfinden, etwas „schön“ zu finden, ohne irgendeine ästhetische Begründung dafür parat zu haben. Das Interpretieren von Bildern befindet sich dann im wahrsten Sinn des Wortes zwischen Alltag und Wissenschaft, und die schwierige ästhetische und analytische Verortung der Interpretation kann parallel gesetzt werden zur erlebenden Betrachtung und zur Untersuchung von Musik und Sprache sowie auch, auf einer etwas anderen Ebene, von Geistigkeit und Körperlichkeit.