Umgang mit „alten“ Bildern
In der aktuellen, unüberschaubaren und höchst fragilen digitalen Bilderwelt spielt das überlieferte und oft über Jahrhunderte tradierte Bildinventar eine interessante Rolle, indem seine visuellen Signale und deren inhaltliche Bestandteile in verfremdeten, zumeist instrumentalisierenden Formen auftauchen. Häufig wird ihre Herkunft einschließlich der religiösen, moralischen oder sozialen Botschaften des christlichen Zeicheninventars aus vorindustriellen Gesellschaftsformationen nicht oder kaum noch erkannt – und dennoch genutzt oder besser: benutzt.
Das 20. Jahrhunderts hat eine Phase des Übergangs auf diesem Weg dargestellt. Als es begann, gab es eine historisch gewachsene, feste, verständliche und verstehbare Bilderwelt, die als solche zwar auch bereits kommerzialisiert wurde, für satirische, karikierende oder sonstwie verfremdende oder infragestellende Darstellungen jedoch kaum zur Verfügung stand. Als das Jahrhundert endete, waren sämtliche Tabus im Umgang mit zeichenhaften Bildern gebrochen. Deren massenhafte „Anwendung“, die man wohl populistisch nennen darf, geschah und geschieht in allen nur denkbaren Lebens- und Wahrnehmungsbereichen, und deren Bedeutung ist immer stärker in Bereiche entweder einer verbreiteten Oberflächlichkeit oder des Suggestiven und der unsichtbaren Beeinflussung hinüber gewechselt. Die analoge, papierene Bildlichkeit in Büchern und Zeitschriften, auf Post- und Glückwunschkarten sowie etwa im Wandschmuck ist inzwischen historisch zu nennen, seitdem die Digitalisierung sich wirkmächtig auf alle Aktivitäten bildschöpferischer Art gelegt hat und diese dominiert.
Umso wichtiger kann der Anspruch angesehen werden, sich kulturkundlich, obschon mit einer Portion lustbetonter Subjektivität, mit einem „Bilderalltag“ zu beschäftigen, der zumindest teilweise noch als selbsterlebte Gestaltungspraxis der einzelnen Persönlichkeit oder auch einer Gruppe dokumentierbar ist. Darin ist – noch – die Chance enthalten, Kontinuitäten auf die Spur zu kommen, die in die erste Hälfte des 20. oder sogar ins 19. Jahrhundert zurückreichen und sich auf eine populare und populäre Bilderwelt beziehen, die vielleicht als (auch glaubensbezogene) „Bildlore“ unter den Bedingungen der Industriegesellschaft bis hin zu den ihr nachfolgenden Strukturen bezeichnet werden kann. Es geht also, anders formuliert, um die – manchmal spielerische, manchmal ethnografische – Aufhellung von visueller Kultur im Zeitabschnitt eines gesellschaftlich-kulturellen Übergangs.
Als Ziel darf der Wunsch gelten, jedem dieser Bilder eine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die unter der Bilderflut heutiger Tage nicht mehr möglich erscheint. Jedes unter kulturkundlicher Perspektive vorgestellte Bild verdient es im Sinne einer subjektiven bis exemplarischen Auswahl, gedeutet und in einen kulturellen oder den seinerzeitigen lebensgeschichtlichen oder gesellschaftlichen Kontext hineingestellt zu werden. Dahinter stehen die Lust und die Freude am Bild-Erhalt und am Aufscheinen von dahinterstehenden Botschaften. (Dass die heutige Auffächerung der virtuellen Bilderwelt ebenfalls große Aufmerksamkeit verdient und nicht etwa in kulturpessimistischer Manier verdammenswert ist, allerdings methodisch auf andere Art angegangen werden muss, mag hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden.)
In der sogenannten Rhetorik künstlerischer Bilder wie auch in deren Wirkung konnten sich, seit es Bilder gibt, verschiedene inhaltliche und motivische Komponenten, auch religiöse, mit anderen durchmischen. Diese konkret-materielle Bilderwelt besaß bis ins 19. Jahrhundert hinein einen elitären Charakter, denn kaum jemand konnte sich eines der wenigen Bilder leisten. Diese Zeit vor der allgemeinen Alphabetisierung und der beginnenden Schriftkultur ist als Epoche einer „mündlichen Sehkultur“ bezeichnet worden, in welcher das Erzählen (und zuweilen vielleicht auch das Vorlesen) Vorstellungs-Bilder schuf. Erst den sich industrialisierenden Reproduktionstechniken war es zu verdanken, dass ab dem 19. Jahrhundert mit dem massenhaften Bilderdruck geradezu eine „Bildersucht“ entstand, die auch neue Hierarchien aufbaute. Vor der Erfindung der Lithografie gab es, so die heute vorherrschende Auffassung, keine „schlechten“ Bilder, sondern nur „künstlerische“ und „volkskünstlerische“, beide gering an Zahl.
Dass technische Fortschritte bei der Bild-Erstellung, beim Druck und beim fotografischen Ablichten eine Massenhaftigkeit ermöglichten, wirkte sich nach und nach auch auf neue Berufsfelder aus. Zwischen Kunst und Handwerk entstanden neue Zweige eines angewandten, zielgerichteten und kommerziell beeinflussten kreativen Schaffens als Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft. Die bereits zuvor praktizierte visuelle Verbindung vielfältiger vertrauter Kulturelemente mit spirituellen Aspekten oder mit als attraktiv empfundenen fremden und geradezu exotischen Bildreizen verästelte sich zu neuen Sparten und es entstanden Bildmuster, Kategorien oder, bildlich gesprochen: immer mehr einzelne Schubladen für immer mehr Bilder in immer differenzierter werdenden, drucktechnisch reproduzierten Formen. Diese Kategorisierungen, die letztlich dann auch jeder Sammeltätigkeit zugrunde liegen, sind erst in der Digitalisierung aufgelöst worden.
Dabei ist stets und generell zu berücksichtigen, dass Bildwirkungen im Sinne von auf die Rezipierung folgenden Auswirkungen emotionaler oder performativer Art in historischen Zeitabschnitten kaum wirklich untersucht werden können, sondern allenfalls in Gestalt von Zuschreibungen und Interpretationen dokumentierbar sind. Das gilt insbesondere für den persönlichen Bereich der individuellen Bildbetrachtung mit ihren psychosozialen Faktoren, nicht nur der Erinnerung. Dagegen lässt sich die Reproduktions-Fotografie-Betrachtung als Quelle einer Beschreibung des kollektiven kulturellen Gedächtnisses (oder auch etwa die repräsentative Dokumentation des Wandschmuck-Bestandes in einer Vielzahl gegenwärtiger Wohnungen) schon eher sozialwissenschaftlich-kulturkundlicher Erkenntnis zuführen.
Die in der Buchreihe Das niedere Bild betrachteten Bilder werden nicht nach einem einheitlichen Muster behandelt wie bei einer „klassischen“ und methodisch „sauberen“ Bild-Analyse. Dennoch finden die Elemente solcher Analyse gelegentlich Berücksichtigung, vom ersten Eindruck über die deskriptive Bildbeschreibung und formale Komposition bis zur ikonografischen Interpretation. Allerdings erfolgen diese Schritte zumeist spontan, sind subjektiv und sollen nicht den Anspruch erheben, verallgemeinerbar zu sein. Wer ihnen den Charakter von kleinen Übungen sammelfreudiger Bilderlust zusprechen möchte, mag dies tun.